Aber auch die Samen einheimischer Pflanzen in freier Wildbahn werden geerntet. Ausgesuchte Gebiete und Berge in Österreich werden mit speziellen Genehmigungen begangen und diverse Frucht- und Samenstände geerntet und mitgenommen. Diese werden dann so genau wie möglich bestimmt und mit botanischen Namen, Fundorten und Zeitangaben versehen sowie anschließend getrocknet. Die Samen werden geputzt und von Pflanzenresten befreit, taube und kaputte Körner aussortiert und dann alphabetisch sortiert. Nach mehrfacher Kontrolle werden die verschiedenen Arten in einem Katalog, dem Index seminum, nach Fundorten und Familien sortiert anderen Gärten angeboten. Diese Samen werden nur an Botanische Gärten und wissenschaftliche Institutionen im Tauschweg abgegeben und dürfen nur für Forschungs- und Bildungszwecke verwendet werden.
Wozu das Ganze? Für viele Botanische Gärten stellt dieser Internationale Samentausch die einzige Möglichkeit dar, die eigenen Pflanzensammlungen zu erweitern und ausgefallene Stücke wieder zu ersetzen. Auf diese Art können Pflanzenbestände besser gesichert und für die Zukunft erhalten werden, es wird Inzucht vermieden und es können auch die Bestände in freier Natur besser erhalten werden. Niemand muss in die Alpen fahren, um dort immer wieder Edelweiß auszugraben, weil man sie für ein Forschungsprojekt dringend benötigt. Stattdessen kann sich die betreffende Universität Saatgut von einem Garten schicken lassen, welches bestandsschonend von den richtigen Pflanzen unter Einhaltung der im jeweiligen Land geltenden Gesetze geerntet wurde. Da die Gärten und Universitäten sich damit aufwendige Sammelreisen in andere Länder ersparen, ist auch ein wirtschaftlicher Nutzen vorhanden.
Wie kann man sich dieses Sammeln an Naturstandorten in den österreichischen Alpen nun vorstellen? Auf den ersten Blick recht kurios – nach dem Erreichen des gewünschten Sammelgebietes wandern Gärtnerinnen und Gärtner des Alpengartens im Belvedere langsam (sehr langsam) mit vielen unterschiedlichen Papier- und Nylonsäcken in der Hand dahin, sinken immer wieder auf die Knie und zupfen vertrocknete Pflanzenreste ab. Dann suchen sie verzweifelt das richtige Säckchen und versuchen die sperrigen Fruchtstände unbeschädigt hinein zu bugsieren, ohne all die anderen Säckchen zu verlieren.
Abstürzen sollte man auch nicht – immerhin wachsen doch einige dieser Pflanzen an recht exponierten Orten wie Felswänden, Graten oder an steilen Abhängen.
Bei sehr ähnlichen Arten plagen einen nach kurzer Zeit Zweifel, ob wohl noch alles richtig eingeordnet ist. Man hat eigentlich nur die Möglichkeit, alle Säckchen zu verschließen und wieder mit neuen zu beginnen (Diesmal passen wir aber wirklich auf!). Denn die vermischten Samen müssen dann nach der Rückkehr im Alpengarten im Belvedere mühsam getrennt werden – oft Korn für Korn.
Nach ein paar hundert Kniebeugen mit Rucksack melden sich dann auch die Knie und fordern dringend eine Pause ein. Während dieser Pausen werden die gefüllten Säckchen in den Rucksack umgeräumt, damit dieser noch ein wenig schwerer und voluminöser wird, was beim Bücken und Niederknien sehr hilft – nur nicht beim Wiederaufstehen. Sehr aufbauend sind da auch die Kommentare anderer Wanderer, die darauf hinweisen, dass man für diese Tour keinen so großen Rucksack bräuchte und dass man ruhig schneller gehen könne als eine rheumatische Schildkröte. Versucht man dann seine Aufgabe zu erklären, erntet man meist spätestens beim Blick in ein Samensäckchen einen hoffnungslos mitleidigen Blick: „...und wegen dem Klumpert plagt's euch so?“
Entschädigt wird man aber spätestens gegen Abend, wenn die meisten Tagesausflügler wieder heimkehren und man die Natur genießen kann, weil bereits genug gesammelt wurde und Zeit ist für lange Gespräche auf fast leeren Hütten sowie Treffen mit Jägern, Förstern und anderen naturverbundenen Menschen. Auch die Tatsache, dass man gezwungen ist, bei schlechtem Wetter weiterzumachen, kann sehr schöne Momente bescheren. Niemals hätte ich 28 Feuersalamander an einem Tag gesehen, wenn wir nicht im strömenden Regen stundenlang dahinmarschiert wären, oder die Hirschrudel, welche einfach aus dem Regenschleier auftauchten und wieder verschwanden. Immer wieder beeindruckt auch die Wechselhaftigkeit des Wetters in den Bergen – wir starteten bei 28 °C Hitze, am nächsten Tag kamen Sturm und Regen und am dritten Tag mussten wir im fast knietiefen Schnee wieder absteigen – das Wiederfinden der am ersten Tag versteckten Samenbeutel (damit wir sie nicht die ganze Zeit mitschleppen müssen – siehe Kniebeugen) war auch nicht unbedingt einfach.
Das Aufbereiten der Samen und das Putzen stellt einen großen Teil der Schlechtwetterarbeit im Herbst und Winter dar, wobei dann auch immer Zeit sein muss, um die Erlebnisse eindrucksvoll zu schildern und ein wenig auszubauen – schließlich sollen die Kolleginnen und Kollegen auch wissen, was man diesmal alles durchmachen musste, um von Schätzen wie Campanula zoysii einige Samenkörner zu ergattern.
Tatsächlich soll auch die fast immer auftretende Nichterreichbarkeit am Diensthandy wegen Netzausfall ein immer wieder beliebter Grund für weite Sammelreisen sein, aber das können wir so nicht bezeugen ...
Michael Knaack